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Bei Therapeut nachgefragt

Was ist eigentlich ein „Vaterkomplex“ – und ist das wirklich schlimm? 

Ist das Wort Vaterkomplex eigentlich in Ordnung?
Ist das Wort Vaterkomplex eigentlich in Ordnung? Foto: Getty Images
Desireé Oostland
Autorin bei STYLEBOOK

21.09.2023, 17:20 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten

„Du hast bestimmt einen Vaterkomplex“, heißt es gerne, wenn Frauen sich für einen älteren Mann entscheiden oder in einer schwierigen Beziehung feststecken, obwohl sie unglücklich sind. Doch kann man das wirklich darauf zurückführen? Wir haben mit einem Paartherapeuten über „Daddy Issues“ gesprochen.

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Vaterkomplexe, auch Daddy Issues genannt, sind in dem heutigen Sprachgebrauch mindestens genauso präsent wie „Narzissmus“ und „Toxic“. Viele Frauen fragen sich auch selbst, ob ihr Interesse an älteren oder schwierigen Männern (je nach Verhältnis zu dem eigenen Vater) auf eine Art Vaterkomplex zurückzuführen ist. Um den Vaterkomplex aufzuschlüsseln, haben wir mit Paartherapeut Eric Hegmann über das Thema gesprochen.

Was ist ein Vaterkomplex?

Früher wurde der Vaterkomplex eher den Frauen vorgeworfen, die sich für ältere Männer interessieren. Doch heute werden auch Frauen mit dem Begriff konfrontiert, die eine „schwierige Beziehung“ zu ihrem Partner haben.

Dennoch gibt es Frauen, die ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Vaterfigur hatten – oder eben gar keins. Um das zu kompensieren, suchen sie sich oft Männer aus, die ebenfalls unzuverlässig sind oder sich in Lügengeschichten verstricken oder verlangen von ihren Partnern eine unnatürlich große Spannbreite an Zuneigung, weil sie diese von ihrem Vater nicht erhalten haben. Doch handelt es sich dabei wirklich um eine Art Vaterkomplex?

Der Paartherapeut Eric Hegmann definiert den Begriff gegenüber STYLEBOOK so: „Vor allem ist der Begriff eine wenig hilfreiche Pathologisierung von Verhaltensweisen und einer Partnerwahl, überwiegend verwendet bei jüngeren Frauen, die einen älteren Partner wählen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass eine junge Frau nur aus finanziellen Gründen, wegen des Status oder eben wegen kindliche Prägungen einen älteren Partner wählen würde“, erklärt der Paartherapeut.

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Wie entstehen Daddy Issues?

Auf die Frage, wie solche vermeintlichen Komplexe entstehen, hat Hegmann eine klare Antwort: „Da es den Vaterkomplex als Diagnose nicht gibt, kann es auch keine seriöse Entstehungsgeschichte geben“, erklärt er.

„Die meisten haben möglicherweise die Idee, dass eine besonders intensive Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater dazu führen kann, dass diese sich später im Leben einen Mann sucht, der ihrem Vater in seiner Persönlichkeit, und auch in seinem Alter, ähnlich ist“. Doch deshalb einen Vaterkomplex als Diagnose zu verbreiten, findet der Paartherapeut inakzeptabel: „Hier in der Praxis mache ich mir solche Gedanken nicht. Und ich wüsste auch keine seriösen Kolleginnen oder Kollegen, die ernsthaft Vaterkomplex als eine Art Diagnose verstehen würden“, erklärt er.


„Denn worum geht es wirklich? Ein Kind, völlig egal, ob Tochter oder Sohn, erlebt mit einem Elternteil eine Dynamik, die sich in Kommunikation, Konfliktlösung, Verbindung und andere darstellt, und das Kind erlebt diese Dynamik als sicher, und möchte diese als Erwachsener in der eigenen Beziehung ebenfalls erleben“, so der Paartherapeut gegenüber STYLEBOOK.

Ist es also eher die Gewohnheit, statt ein Komplex?: „Sicherheit, Stabilität sind hier häufig zwei sehr wichtige Komponenten. Nun ist es aber so, dass alle Erwachsenen sich bei der Partnerwahl bewusst oder unbewusst daran orientieren, wie sie die Dynamik der Eltern und ihre persönliche Dynamik zu einem Elternteil, wahrgenommen und erlebt haben. Manche Menschen, beispielsweise, wenn die elterliche Dynamik eher von Streit und Aggression geprägt war, versuchen vielleicht als Erwachsener, den Konflikt nachträglich zu lösen, mit dem neuen Partner. Andere begeben sich in eine ähnliche Dynamik, weil die ihnen eben vertraut vorkommt, obwohl sie von außen betrachtet vielleicht nicht unbedingt die zufriedenstellende Dynamik darstellt. Eine große Rolle spielt dabei das persönliche Bindungsverhalten und das ist komplexer als stark vereinfachte Begriffe wie Vaterkomplex“, so Eric Hegmann

Was beschreibt einen Vaterkomplex?

Auch wenn das Wort Vaterkomplex merkwürdig ist, gibt es dennoch Anzeichen, die auf diese Verhaltensweisen, wie auch immer sie betiteln werden, hindeuten können. Meist suchen sich hauptsächlich Frauen Männer an ihrer Seite, die ihrem eigenen Vater sehr ähnlich sind. Das kann sich sowohl auf Äußerlichkeiten, aber vorwiegend auf die Charaktereigenschaften auswirken. Außerdem verlangen diese Frauen von ihrem Partner die ungeteilte Aufmerksamkeit, eben weil sie diese früher nie von ihrem Vater erfahren habe.

Ist es schlimm, einen Komplex zu haben?

Doch ist diese Verhaltensweise in einer Beziehung oder bei der Partnerwahl wirklich schlimm? Dazu findet der Paartherapeut deutlich Worte: „Wenn Menschen in Beziehungen unglücklich sind, dann liegt es häufig daran, dass sie den Eindruck haben, sie wären in dieser Beziehung zu einer Person geworden, die sie eigentlich nicht sein wollen“, erklärt Eric Hegmann. „Es ist eher unwahrscheinlich, dass jemand bewusst einen älteren Partner wählt und deshalb darunter leidet. Die meisten Paare mit einem Altersunterschied wissen ziemlich genau, was sie davon haben, welche positiven Momente sie deshalb erleben, und warum sie dies sogar dennoch tun, obwohl sie von Außenstehenden möglicherweise abgewertet werden durch Begriffe wie Vaterkomplex“.

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Deshalb ist das Wort Vaterkomplex sexistisch

Ob hinter dem Begriff wirklich etwas steckt oder nicht, eines ist klar: Es ist ein äußerst fragwürdiger Begriff. Haben Sie schon einmal gehört, wie einem Mann, der eine Liaison mit einer älteren Frau führt, ein „Mutterkomplex“ unterstellt wird? Geschweige denn ein Vaterkomplex? Eher selten.

Doch überwiegend kommt das Wort daher, dass die Gesellschaft immer noch davon ausgeht, dass Frauen schutzbedürftige, kleine, nach Liebe krächzende Wesen sind. Und da liegt ein für die Außenwelt dieser Komplex ziemlich nahe. Außerdem suggeriert dieser Ausdruck viel mehr, dass die Frau in der Konstellation das Problem sei. Schließlich habe sie den „Vaterkomplex“, den sie endlich verwerfen sollte. Doch Hand aufs Herz: Wenn Frauen tatsächlich keine emotionale Bindung zu einer männlichen Bezugsperson in ihrem Leben erfahren konnten, dann sind Unterstellungen in Form von solchen Begriffen eher der falsche Weg.

Quelle

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