Seit dem 16. September 2022 ist im Iran nichts mehr, wie es einmal war. Menschen – besonders Frauen – gehen auf die Straßen und sind nicht mehr aufzuhalten. Der Grund für die aktuellen Proteste ist der Tod von Mahsa Zhina Amini – ausgelöst durch ihre brutale Festnahme der sogenannten iranischen Sitten- und Religionspolizei. Was die aktuellen Proteste für die Frauenrechte bedeuten, lesen Sie bei STYLEBOOK.
Seit über 48 Tagen schreien, weinen und kämpfen die Bürgerinnen und Bürger im Iran so stark wie nie zuvor: um Hilfe, um Unterstützung, um Freiheit. Frauen verbrennen symbolisch ihre Kopftücher und fordern den Sturz des Regimes. Nicht nur auf den Straßen Irans, sondern weltweit wird für die Frauenrechte im Iran demonstriert. Auch hier in Deutschland finden regelmäßig Demonstrationen statt, auf denen sich Iranerinnen ebenso wie solidarische Nicht-Iranerinnen für die Frauenrechte einsetzen. Doch während die Frauen hier nach einer friedlichen Demonstration wieder zurück in ihre Wohnungen kehren, sieht die Realität der Menschen im Iran anders aus, denn: Solche Proteste sind im Iran verboten. Wer dort protestiert, riskiert sein Leben.
Die Wut als Antrieb iranischer Frauen
Wenn Exil-Iraner über das Land, die Kultur, das Essen vor Ort sprechen, ist die Wärme des Landes förmlich zu spüren. Doch das ist ein anderes Iran, ein freies Iran, ein glückliches Iran, ein selbstbestimmtes Iran. Was wir seit Jahrzehnten sehen und hören, könnte davon nicht weiter entfernt sein. Und die Wut und Trauer, die sich all die Jahre angesammelt haben, steht den Menschen ins Gesicht geschrieben, wenn wir uns die aktuellen Aufnahmen anschauen. Die Proteste entwickeln sich zu einer feministischen Revolution, bei der Frauen die treibenden Akteure sind.
Die feministischste Debatte, die wir derzeit führen können
Die Proteste belaufen sich auf einfache Grundrechte. Frauen im Iran ist es seit 1979 verboten zu singen, zu tanzen, ohne die Erlaubnis ihres Mannes, das Land zu verlassen – oder gar selbstständig die Scheidung einzureichen. Sobald Kinder involviert sind, erhält der Vater das Sorgerecht – die Frau hat kaum eine Chance auf ein faires Gerichtsverfahren. Ebenso haben Ehemänner zu jeder Zeit ein Anrecht auf Sex mit ihrer Ehefrau und dürfen diesen auch unter Gewalt erzwingen. Wird eine unverheiratete Frau zum Tode verurteilt, wird sie vor ihrer Hinrichtung vergewaltigt, da die Tötung einer Jungfrau unter diesem Regime als Sünde gilt.
Was für uns unvorstellbar ist, ist für die Frauen im Iran Alltag. Kontrollen, Razzien und Festnahmen sind gängige Mittel, um sie zu verängstigen und einzuschüchtern. Ungefähr zwei Jahre nach der Islamischen Revolution wurden Frauenrechte im Iran schrittweise durch den Staat eingeschränkt. Somit wurde auch die Kleiderordnung strenger: Das gesamte Haar muss seitdem mit einem Hijab – beispielsweise einem Kopftuch – verdeckt werden. Darüber muss ein langer Mantel getragen werden. Schuhe dürfen weder hoch noch auffällig sein.
Zwar lockerte sich das Erscheinungsbild der Frauen auf den Straßen Irans über die letzten zwei Jahrzehnte etwas, jedoch sind nach wie vor Kontrollen und hohe Strafen bei willkürlicher Auslegung der Kleiderordnung üblich. Schon in den letzten Jahren gingen vor allem junge Iranerinnen für ihre Freiheit und Frauenrechte und somit gegen den Staat auf die Straßen, doch nie zuvor waren die Proteste so intensiv, eindeutig und zielgerichtet wie heute.
Die unermüdliche Willenskraft iranischer Frauen
Die staubige Decke, die seit März 1979 über dem Iran liegt, löst sich langsam auf. Das Ausmaß wird täglich deutlicher. Die Frauen machen den Eindruck, als hätten sie nichts mehr zu verlieren. „Entweder Tod oder Freiheit“, rufen sie auf den Straßen und nehmen diese Worte als Motor, um nicht müde zu werden. Und vor allem nehmen sie sich endlich den Raum, der ihnen zusteht.
Nur einen Tag nachdem der Chef der Revolutionsgarde noch härtere Maßnahmen für die Demonstranten versprochen hatte, überfüllten die entschlossenen und furchtlosen Frauen das Unigelände einer der größten Universitäten in Teheran. Es sind solche Bilder, die diese starken Frauen derzeit zu Vorbildern jeder Frauenbewegung dieser Welt machen. Denn wenn die Frauen es unter diesen Bedingungen schaffen, für sich einzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen, wer kann sie dann noch aufhalten?
Was ist an diesen Protesten anders?
Während sie ihre Kopftücher verbrennen, ihre Haare abschneiden, unverschleiert auf den Straßen Irans tanzen und für die Freiheit kämpfen, erhalten sie Beifall. Beifall von ihren Männern, Brüdern und Vätern, die sich ebenfalls beteiligen und sich für die Selbstbestimmung der Frauen einsetzen. Zudem sind es besonders die jungen Menschen, die heute auf die Straßen gehen und für ihre Rechte einstehen.
Es ist Generation Z, die das Leben vor der Revolution nie selbst erleben durfte und unter dieser strengen islamischen Regierung aufwuchs. Besonders ungewöhnlich und bewegend zugleich ist die breite Unterstützung auf der ganzen Welt: unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Alter und Schicht. Wie die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri kürzlich in einem Interview sagte, ist es erstmals der „Querschnitt der Gesellschaft, der aktuell proaktiv auf die Straße geht“, um diesem Rechtssystem den Rücken zu kehren.
Das aktuell stärkste Instrument: Reichweite
Wenn die Moderatoren Joko und Klaas ihre reichweitenstarken Accounts an iranische Aktivistinnen verschenken, wenn Coldplay-Sänger Chris Martin ein ausgebuchtes Konzert dafür nutzt, um über die Missstände im Iran aufmerksam zu machen und die aktuelle Protest-Hymne „Baraye“ von Shervin Hajipour singt. Und wenn Herbert Grönemeyer auf Instagram an seine Fans appelliert, dann schenken sie den Frauen im Iran die gerade bedeutendsten und stärksten Instrumente: Reichweite, Stimme und Hoffnung.
Es geht nicht um ein Kopftuch
Bei diesen Protesten geht es in keiner Sekunde um die Diskreditierung einer Glaubensrichtung. Es geht um Freiheit, um Selbstbestimmung, um Akzeptanz, um Leben, um Frauen, und um Liebe. Feminismus bedeutet, dass eine Frau selbstbestimmt und frei entscheidet, was sie tun und lassen möchte.
„Zan, Zendegī, Āzādī!“
Accounts von Frauen, die ausführlich über die Frauenrechte im Iran informieren
- Instagram von Natalie Amiri
- Instagram von Duzen Tekkal
- Instragram von Nina Moghaddam
- Instagram von Daniela Sepehri
- Instagram von Enissa Amani