
9. Dezember 2022, 13:23 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Dr. Eiman Tahir ist Gynäkologin und Expertin für weibliche Genitalverstümmelung. Jeden Tag behandelt sie Frauen, denen die Klitoris oder die Schamlippen entfernt worden sind. Und dieses Engagement könnte ihr jetzt zum Verhängnis werden! Mehr dazu bei STYLEBOOK.
Allein in Deutschland leben 70.000 Betroffene der weiblichen Genitalverstümmelung. Und diesen Patientinnen nimmt sich Dr. Tahir als Expertin auf dem Gebiet an. Rund 5.000 der Patientinnen, die die Ärztin in ihrer Münchener Praxis behandelt, sind beschnitten und haben mit den schlimmen Folgen der Verstümmelung zu kämpfen. Das ist deutlich mehr als in anderen Praxen. Eine Herzensangelegenheit von Dr. Tahir, wären da nicht die enormen Kosten, die die Ärztin scheinbar nun allein tragen muss. In einem emotionalen Video appelliert sie indessen um Hilfe.
Übersicht
Warum fordert die Krankenkasse eine Rückzahlung
„Ich soll ins Gefängnis, weil ich beschnittene Frauen behandle.“ Mit diesen Worten beginnt ein Instagram-Video mit der Münchner Gynäkologin Dr. Eiman Tahir. Rund 130.000 Euro fordern die Krankenkassen von der Ärztin zurück. Doch wieso? Das Problem, erklärt Tahir, sei folgendes: „Meine Abrechnung [entspricht] nicht dem Gynäkologen-Fachgruppen-Durchschnitt. Es kann ja auch nicht entsprechen, weil 30 bis 40 Prozent der Patientinnen genitalverstümmelt sind. Wenn beschnittene Frauen in medizinischer Behandlung sind, kann das re-traumatisierend wirken. Das bedeutet, dass die Behandlungen der Patientinnen im Durchschnitt mehr Zeit und andere Untersuchungsmethoden brauchen. Ärzt*innen können oft weniger Patientinnen behandeln, die Arbeit ist oft herausfordernder.“ Was zur Folge höhere Kosten hat. Kosten, die die Krankenkassen scheinbar nicht übernehmen wollen.
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Petition soll Ärztin helfen und dem Thema Aufmerksamkeit schenken
Bis zum 12. Dezember muss Dr. Tahir die 133.000 Euro an die Krankenkasse überweisen – Geld, welches sie nicht besitzt. Deswegen wurde eine Petition auf innn.it ins Leben gerufen. Initiatorin ist Fadumo Korn, Autorin, Dolmetscherin & Mitgründerin des NALA Bildung statt Beschneidung e. V., die selbst Betroffene von Genitalverstümmelung ist. Sie appelliert an den Gesundheitsminister: „Die Behandlung von Patient*innen mit Genitalverstümmelung ist #KeinDurchschnitt! Medizinische Mehrarbeit muss abgerechnet werden können!“ Bisher wurde die Petition schon über 54.000 Mal unterschrieben (Stand: 09.12.22) und auch auf Instagram erhält die Ärztin positiven Zuspruch.
Die Petition nennt ein konkretes Beispiel zur Behandlungsabrechnung von genitalverstümmelten Patientinnen bei den Krankenkassen. „Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen in einer unauffälligen Schwangerschaft drei Ultraschalluntersuchungen. Da bei beschnittenen Frauen allerdings oft nicht vaginal untersucht werden kann, sind oft mehr Ultraschalluntersuchungen notwendig – die dann von den Kassen nicht vergütet werden. Beschnittene Patientinnen sind überwiegend traumatisiert, deshalb liegen sie in einer Praxis nicht auf einem Untersuchungsstuhl: Diese exponierte Stellung triggert ihr Trauma und sie fühlen sich an den Tatort ihrer Beschneidung zurückversetzt. Die Aufgabe von Dr. Tahir als Ärztin ist es, diesen Patientinnen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen. Den erhöhten Zeit-, Material- und Dokumentationsaufwand bekommt sie nicht vergütet“.
Neben den 130.000 Euro wird der Ärztin obendrein noch Abrechnungsbetrug unterstellt und eine Strafe von 17.000 Euro gefordert. Bezahlt sie diese nicht, kann sie sogar im Gefängnis landen. Bezahlt sie, muss sie ihre Praxis schließen und ist finanziell ruiniert.
Zuspruch aus der Politik, jedoch noch nicht vom Gesundheitsminister
Münchens Alt-Oberbürgermeister Christian Ude zählt laut Bunte zu den Unterstützern. „Mehrere betroffene Frauen haben sich an mich gewandt in der großen Sorge, dass ihnen und allen Frauen, die von genitaler Beschneidung betroffen sind, eine unverzichtbare psychosoziale und medizinische Hilfe verloren gehen könnte ohne jede Aussicht auf zeitnahen Ersatz“, so Ude.
Und weiter: „Die Praxis von Dr. Tahir scheint mir in vielfacher Hinsicht mit ihrer Aufgabenstellung und ihrer Qualifikation unvergleichbar zu sein. Ein Verschwinden gerade dieser Praxis wäre nicht nur für die betroffenen Patientinnen, sondern auch in der öffentlichen Wirkung noch schlimmer.“ Die Petition richtet sich auch an den aktuellen Gesundheitsminister, Dr. Karl Lauterbach. Hier steht eine Antwort noch aus.
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Was man unter einer weiblichen Genitalverstümmlung versteht

Etwa zwei Millionen Mädchen und Frauen sind weltweit jedes Jahr von weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation/Female Genital Cutting, kurz FGM/C), auch Beschneidung genannt, betroffen. Die meisten leben in Afrika und im Mittleren Osten. Der westafrikanische Staat Mali gehört zu den Ländern mit der höchsten Rate, acht von zehn Mädchen und Frauen sind hier beschnitten.
Wie funktioniert das grausame Verfahren
Die weibliche Genitalverstümmelung umfasst alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung zum Ziel haben – sei es aus kulturellen oder anderen nicht-therapeutischen Gründen. Die meisten Mädchen und Frauen sind zwischen sechs und 13 Jahren alt. Jedoch reicht die Altersspanne in der Realität auch von wenigen Monate alten Säuglingen bis hin zu erwachsenen Frauen. Die Praktik wird seit Jahrtausenden und heutzutage auf allen Kontinenten vollzogen. Aufgrund von Migration nimmt die Anzahl der betroffenen Frauen auch in Europa zu. 2009 wurde, in der Resolution des Europäischen Parlaments zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen, die Zahl der in Europa lebenden und betroffenen Frauen und Mädchen auf 500.000 geschätzt.
Nach Angaben der WHO sterben etwa 26 Prozent der Frauen, die Opfer von Genitalbeschneidung geworden sind, an den Folgen der Verstümmelung. Auch deswegen wird Genitalbeschneidung heute als Asylgrund anerkannt. Die Krankenkassen bewilligen bisher keine Extra-Therapien – sei es für die seelischen oder körperlichen Schmerzen.
Quellen